Von Katja Sembritzki
Manchen Menschen ist ihre Gänsehaut-Stimme einfach in die Wiege gelegt worden. Andere treffen keinen einzigen Ton und sollten erst gar nicht anfangen zu singen. Diese Meinung hält sich
hartnäckig. Was ist dran am Mythos?
Unter der Dusche klingt es manchmal schon ganz gut. Nicht wie Whitney Houston, aber immerhin. Hört das Wasser dann auf zu rauschen, fangen die Töne wieder an zu wackeln und die alte Gewissheit
ist zurück: Singen ist einfach nicht mein Ding. Das denken viele Menschen von sich. Aber ist es wirklich so, dass es Personen gibt, die kein Talent zum Singen haben?
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"Wer sprechen kann, kann auch singen", sagt die Berliner Gesangspädagogin Nadja Dehn im Gespräch mit ntv.de. "Noch vor dem Spracherwerb beginnen wir, kleine Melodien zu glucksen und zu lallen."
Dass Menschen gerne singen möchten, aber das Gefühl hätten, keine schön klingenden Töne zu produzieren, habe meist andere Gründe. Bei vielen stecke ein traumatisches Erlebnis dahinter, erklärt
Dehn.
Kinder hören oft, dass sie zu laut sind. Das kann tiefe Spuren hinterlassen. Zum Beispiel wenn ein vor sich hin singendes Mädchen im Unterricht immer wieder ermahnt wird und sie die Rüge nicht
auf die Situation, sondern auf ihre Stimme bezieht. Oder wenn ein Junge von klein auf gesagt bekommt, dass er zu schrill klingen würde. Viele Menschen, die solche Erfahrungen machen, trauen sich
dann irgendwann nicht mehr zu singen. Auch deshalb engagiert Dehn sich in der musikalischen Ausbildung von Erziehern und Lehrerinnen.
"Einpegeln" beim gemeinsamen Singen
Warum die Menschen angefangen haben zu singen, darüber herrscht unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten Uneinigkeit. Einige vermuten den Ursprung darin, dass mit lautem Singen Raubtiere
vertrieben wurden, andere sehen als Initialzündung das Werben um Sexualpartner. Unbestritten ist, dass Gesang seit der Frühzeit der Menschheit eine große Rolle spielt, wenn es darum geht, das
Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb einer Gemeinschaft zu stärken.
Singen in der Gruppe ist in Deutschland tatsächlich sehr angesagt, das belegen Zahlen des Deutschen Musikinformationszentrums. Etwa vier Millionen Laiensängerinnen und -sänger über 14 Jahre sind
Mitglied in einem Chor. Wegen der Corona-Pandemie pausieren die meisten Ensembles allerdings gerade oder proben wegen der erhöhten Produktion von Aerosolen beim Singen nur unter sehr strengen
Hygiene- und Abstandsvorschriften.
Beliebte Freizeitbeschäftigung: Vier Millionen Menschen in Deutschland singen in einem Chor.
Für alle, die lernen wollen, ihrer Singstimme wieder zu vertrauen, sind Chöre ein ideales Umfeld. "Das feine Gehör, sich auf andere Menschen einzupegeln, entsteht nur im gemeinschaftlichen
Singen", sagt Nadja Dehn. "Ich habe Erfolgsgeschichten von Menschen gesehen, die drangeblieben sind, jetzt in meinem Chor singen und bis zu 95 Prozent der Töne treffen. Und wenn sie sie nicht
treffen, dann weiß ich, dass sie vielleicht neben einer falschen Person stehen". Denn einige Menschen haben einfach eine andere Hörwahrnehmung. Wenn dann Grundton und Obertöne nicht im
Gleichklang mit denen des Chornachbarn schwingen, sind sie verunsichert und singen plötzlich schief..
Wenn die Glückshormone tanzen
Dass es viele Personen mit Singhemmungen gibt, daran ist auch die Gesellschaft nicht ganz unschuldig. Die kontraproduktive Idee, "dass es talentierte Menschen gibt, die singen können, und
untalentierte, die gar nicht erst anzufangen brauchen", sei weit verbreitet, meint Dehn. "Das finde ich total schade, weil Singen die Lebensqualität steigert."
Die positive Wirkung auf Körper und Psyche haben Wissenschaftler in zahlreichen Studien nachgewiesen. Wer singt, der stärkt unter anderem das Immunsystem und hält sein Herz-Kreislauf-System auf
Trab. Außerdem bereitet Singen - egal ob alleine oder im Chor - nicht nur ungemein Freude. Es macht auch noch glücklich, weil jede Menge Endorphine und Serotonin freigesetzt und Stresshormone
abgebaut werden.
Auch bei Zuhörern kann Gesang eine wohlige Gänsehaut hervorrufen. Oft wird guten Sängerinnen und Sängern nachgesagt, ihre Stimme sei ihnen "in die Wiege gelegt" worden und sie müssten nichts
dafür tun. Stimmt das? Natürlich hat es jemand leichter, der in eine Umgebung voller Musik hineingeboren wird, der sich ungehindert ausprobieren darf. Auch eine symmetrische Anatomie verschafft
einen gewissen Vorteil. Letztendlich aber ist Dehn davon überzeugt, "dass Training das Ausschlaggebende ist".
Singen ist Arbeit
Beim Singen sind zahlreiche Muskeln vom Kehlkopf bis hinunter zum Bauch beteiligt. Es ist wichtig, während des Singens die Erfahrung zu machen, wie diese Muskeln im Zusammenspiel funktionieren.
Dann können sie gezielt trainiert werden - und zwar regelmäßig. Auch Profis kommen nicht ohne Üben aus, entkräftet Dehn, die selbst als Sängerin auf der Bühne steht, einen weiteren gängigen
Mythos. Aber das gelte eben auch für Freizeitsänger. "Viele, die Gesangsunterricht nehmen, gehen da einmal die Woche hin, machen aber zu Hause nichts. Und dann wird sich die Stimme auch nicht
grundlegend verändern", erklärt Dehn.
Schon fünf Minuten Trällern unter der Dusche täglich können also ein Anfang sein. Und wenn es nicht wie Whitney Houston klingt, ist das auch nicht schlimm. "Es ist wichtig, dass wir nicht zu
schnell bewerten", betont Dehn. "Jede Stimme ist schön".
Quelle: ntv.de